Die Rahmenbedingungen waren allerdings schwierig. Zunächst musste das sehr wechselhafte Wetter über lange Zeit vorab beobachtet werden um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Letztendlich meinte es der Wettergott aber gut und prognostizierte für beide Tage stabile Verhältnisse. Dann fesselte eine Erkältung unseren Jupp, der die Rolle des Organisators und Fachübungsleiters Bergsteigen innehat, ans Bett, was seine Teilnahme an unserer Tour unmöglich machte. Glücklicherweise war die Tour mit zwei Trainern geplant worden und Till übernahm die weitere Leitung.
Schließlich bereitete uns die Anfahrt nach Obergurgl im Ötztal größere Probleme. Durch die starken Regenfälle der Vorwochen hatten sich ein großer Fels und mehrere Moränen gelöst und die Straße nach Obergurgl unpassierbar gemacht. Da uns diese Informationen rechtzeitig vorlagen, beschlossen wir nach Vent im Ötztal zu fahren und von dort über einen eher unbekannten Weg zum Ramolhaus, wo wir gebucht hatten, aufzusteigen.
Am Parkplatz der Bergbahnen Vent angekommen, kam dann auch unser Münchner Bergkamerad Markus hinzu. Und schon gings flotten Schrittes 1290 Meter zum Ramoljoch empor. Ziemlich schnell wurde mir klar, dass die „anspruchsvollen Hochtouren“ auch den Fitnessstand unserer ganzen Truppe wiederspiegelten und ich ahnte, dass ich auf dieser Tour wohl ziemlich gefordert werde.
Wir genossen den ersten wunderbaren Blick am Tag von Oben über die verzaubernde Gipfelwelt. Nachdem das Ramolhaus schon in Sichtweite und abschätzbarer Geh-Weite war, beschlossen wir, zuvor noch den gleich linker Hand liegenden Kleinen Ramolkogel zu erobern. Zuerst runzelten wir die Stirn, wo denn dort eigentlich ein Weg oder ähnliches sein sollte, aber nach den ersten Schritten lief es wie am Schnürchen und wir kraxelten nach einem Materialdepot weitere 165 Höhenmeter entlang des Grates dem Himmel entgegen. Am Kleinen Ramolkogel (3.349 m) angekommen, konnten wir nach einem „Berg Heil“ und einem Geburtstags-Gipfel-Schnapserl viele bekannte Berg-Gesichter in weiter Entfernung erblicken bzw. erahnen. Rosengarten, Großglockner, Wildspitze, Hintere Schwärze und sogar noch den Ortler. Der erste Bergtag schien gelungen. Nach dem Motto „Der Berg gehört Dir erst, wenn Du wieder unten bist“ starteten wir zum Abstieg zum Ramolhaus. Auf diesen letzten Schritten des Tages gab es keine besonderen Vorkommnisse. Da die Beine nun schon recht schwer wurden, war die Vorfreude auf unser erstes kühles Bier schon sehr groß - und so sollte es dann auch kommen.
Auf der Terrasse der Hütte angekommen, begrüßte uns ein humorvoller, redegewandter Hüttenwirt und gab uns sofort das Gefühl, am richtigen Ort zu sein – besser geht nicht: Berghütte auf 3.000 Meter, eine Terrasse, der sich anbahnende Sonnenuntergang, ein lockerer Hüttenwirt, sympathische Kameraden, mit denen man schon einen tollen Tag teilen durfte und ein kühles Bier.
Es wird wohl nicht lange her sein, dass das Ramolhaus renoviert wurde, denn die Stube, die Sanitäreinrichtungen und die Zimmer waren einwandfrei. Nach tollem Essen und ein paar weiteren Erfrischungsgetränken gings dann pünktlich zur Hüttenruhe ins Bett.
Für den zweiten Bergtag beschlossen wir, mit den Kenntnissen des Vortages ausgerüstet, den Nördlichen Ramolkogel, welcher bei den Einheimischen Anich-Spitze genannt wird, zu besteigen. Der Wetterbericht sagte stabiles Wetter bis 14 Uhr voraus und so sollte es dann auch kommen. Über den Ramolferner und mit einer anschließenden Kraxelei konnten wir auch schon das erste Tagesziel, den Nördlichen Ramolkogel (3.428 m) erklimmen. Hier stellten wir fest, dass das Gestein in der Region äußerst brüchig ist und jeder Griff und jeder Tritt erst überprüft werden muss, bevor man ihn belastet oder sich daran empor zieht. Die Sichtverhältnisse ähnlich gut wie tags zuvor, jedoch sahen wir auch, dass sich von Osten her hohe Wolken mit möglicherweise Regen und Gewitter anbahnten. Da das Ganze aber noch ausreichend entfernt war, stand dem zweiten Tagesziel, dem Mittleren Ramolkogel nichts im Wege. Nach einem Abstieg in einen Sattel, wurden auch die weiteren 151 Höhenmeter zum 3.518 Meter hohen Mittleren Ramolkogel souverän bezwungen. Der Fels auf diesem Grat erwies sich als deutlich kompakter und weniger brüchig - fast schon eine Genusskletterei.
Nach dem erneuten Gipfelerfolg stiegen wir wieder flott, aber mit der nötigen Vorsicht zurück zum Ramolferner, wo eine kurze Rast eingelegt wurde. Die Wetterlage stets im Blick, begannen wir anschließend, den verschneiten Gletscher bergab in Richtung Ramoljoch zu stapfen bzw. zu rutschen. Dies war eine spannende Situation, da wir gemeinsam beschlossen hatten, den Ferner ohne Seil abzusteigen. Spalten waren hier nach Auskunft des Hüttenwirts nicht mehr vorhanden.
Im Ramoljoch angekommen, lehrte uns das Wettergeschehen, dass die Vorhersagen sogar allzu genau zutrafen. Gegen 14 Uhr gabs bereits vereinzelte Tropfen und nach weiteren 30 Minuten Abstieg in Richtung Vent schlug hinter uns bereits ein Blitz ein, den wir so früh noch nicht erwartet hatten. Zwei Gedanken waren ab nun in aller Köpfe: Gut, dass wir das insgeheime dritte Tagesziel, den Hinteren Spiegelkogel, nicht mehr angetreten haben – da wären wir jetzt wohl gerade am Gipfel. Der zweite Gedanke: ob wir da noch trocken beim Auto am Parkplatz ankommen?
Kaum zu glauben aber wahr – es regnete rechts, links und hinter uns, aber eben noch nicht bei uns. Wir schafften es flotten Schrittes zu den Autos, organisierten uns und begannen die Heimfahrt. Nach wenigen Minuten Autofahrt ergoss sich ein Starkregen, der das Auto mangels Sicht nur noch kriechen ließ. Also mal richtig Glück gehabt, sonst wäre uns das Wasser aus den Hosenbeinen wieder heraus gelaufen.
Die Rückfahrt sollte uns über den Fernpass nach Garmisch führen, was keine glückliche Entscheidung war. Nach Stau am Pass und durch Garmisch freuten wir uns darüber, an der Tankstelle in Eching die Füße vertreten zu können und ein Erfrischungsgetränk zu erwerben. Zurück am P+R Parkplatz in Aiterhofen angekommen, war uns klar, dass wir zwei großartige Bergtage hinter uns hatten. Der große Felsbrocken, welcher uns die Anfahrt nach Obergurgl versperrt hatte, beschwerte uns zugleich eine fast leere Berghütte und eine ziemlich leere Region. Nach so schönen Stunden oben am Berg fällt es schwer, wieder so weit davon weg fahren zu müssen. Nach den vielen Monaten der geschlossenen Hütten wegen Covid-19 hatten wir nun endlich wieder die Gewissheit, dass uns unser geliebtes Tirol wieder zurück hat.
Peter Haberl